Stigmatisierungen in Mensch-Führhund-Triaden
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zu machen: Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass die von ihr Betroffenen über
keine visuellen Vorstellungen verfügen.
Die Beobachtungen werden verdeckt durchgeführt. Dies bedeutet konkret,
dass die während der Beobachtungssituationen zufällig auf das Mensch-Assistenz-Team treffenden Dritten nicht wissen, dass sie beobachtet werden. Um die
beobachteten Situationen nicht zu stören, notiert die Forscherin ihre Eindrücke
nicht während der, sondern erst unmittelbar im Anschluss an die Interaktion in
Form eines Gedächtnisprotokolls. Aus rechtlichen Gründen wird auf das Anfertigen
von Tonaufnahmen in den Beobachtungssituationen verzichtet. Auch wenn die
Forscherin mit dem Untersuchungsgegenstand vorab vertraut ist, ist es ihr doch
möglich, das vermeintlich fraglos Gegebene neu zu entdecken. So rückt erst die
zuvor stattgefundene intensive Beschäftigung mit dem theoretischen Hintergrund
bestimmte Aspekte während der Beobachtung ins Bewusstsein. Außerdem macht
die ‚mikroskopische‘ Analyse von alltäglichen Interaktionen andere Aspekte sichtbar, die in routinisierten Abläufen des Alltagshandelns zumeist verborgen bleiben.
Entsprechend der Fragestellung sind im Rahmen der Datenerhebung nur solche
Fälle von Interesse, die eine triadische Konstellation, bestehend aus mindestens
einem sehenden und einem blinden Menschen sowie einer Mobilitätsassistenz,
aufweisen. Des Weiteren muss die Mobilitätsassistenz für sehende Menschen in
der Situation anhand ihrer Nutzung oder entsprechender Kennzeichnung deutlich als solche erkennbar sein. Da die Intensität des Engagements der an einer
Interaktion Beteiligten je nach Situation variieren kann und die Forscherin davon
ausgeht, dass sich dies auf die Bedeutung der Mobilitätsassistenz in der jeweiligen
Situation auswirkt, sollen Fälle ausgewählt werden, die diesbezüglich ein breites
Spektrum an Ausgangssituationen abdecken. So werden einerseits Fälle in die Untersuchung aufgenommen, in denen der Fokus der Interaktion zunächst innerhalb
des arbeitenden Führgespanns liegt und Dritte mit anwesend sind. Solche Fälle
finden sich beispielhaft in Einkaufszentren. Andererseits sind Fälle von Interesse,
in denen ein blinder und ein sehender Mensch miteinander interagieren und die
Mobilitätsassistenz nur mit anwesend ist. Hier werden exemplarisch Situationen
an einer Theke wie z. B. einer Supermarktkasse ausgewählt. Schließlich gilt es noch
Situationen zu untersuchen, in denen zunächst keine beabsichtigte Interaktion
zwischen den Anwesenden stattfindet. Hierfür stehen beispielhaft das Warten an
einer Bushaltestelle und die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Da ein Führhund
auch dann im öffentlichen Raum als Führhund gekennzeichnet ist, wenn er gerade
nicht arbeitet, wird zusätzlich noch die Begegnung mit Dritten auf Spaziergängen
untersucht. Bei der Auswertung der Daten wird auf die Vorgehensweise und das
Kodierparadigma der Grounded Theory zurückgegriffen (vgl. Strauss/Corbin 1996).
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Natalie Geese
Anhand meines folgenden Fallbeispiels will ich aufzeigen, dass es sich bei der
Entstehung bzw. Vermeidung von Stigmatisierung um einen Prozess handelt, der
durch wechselseitig aufeinander bezogenes Handeln der Interagierenden geprägt
ist. Die zugrunde liegende Interaktion ereignete sich während eines Spaziergangs.
Anwesend waren die teilnehmende Beobachterin, ihr Führhund, eine sehende
Begleiterin und eine Spaziergängerin. Die Sequenz beginnt damit, dass die Spaziergängerin in die Welt in Reichweite der anderen Beteiligten eintritt, und sie endet,
nachdem sie diese wieder verlassen hat und sie in der Interaktion der anderen
Beteiligten thematisch nicht mehr relevant ist.
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Fallbeispiel: Anwendung von Interaktionsstrategien
zur Wahrung des eigenen Images
Die blinde Beobachterin ging im gemütlichen Tempo rechts neben ihrer sehenden
Begleiterin her. Zwischen den beiden bestand kein Körperkontakt. Der Führhund
der Beobachterin (eine Mischung aus Labrador und Golden Retriever) lief in einem etwas größeren Abstand frei vor den beiden her. Er trug eine orangefarbene
Kenndecke mit aufgenähten ovalen Führhundabzeichen. Auf diesen sieht man
auf blauem Grund in weiß einen blinden Menschen mit Langstock und Hund
im Führgeschirr. Auf dem Aufnäher ist der Schriftzug „Blindenführhund“ zu
lesen. Die Beobachterin wusste nicht, was ihr Führhund gerade tat, da sie in ein
Gespräch mit ihrer Begleiterin vertieft war. Plötzlich sagte die Begleiterin: „Der
macht nichts!“, was sie mehrmals wiederholte. Schließlich fügte sie noch hinzu:
„Das ist ein ausgebildeter Blindenhund“. Währenddessen hörte die Beobachterin,
dass sich von vorne Schritte näherten. Als die Schritte fast auf Höhe der Beobachterin und ihrer Begleitung angelangt waren, sagte die Stimme einer jungen Frau
im Weitergehen, dass sie das Führhundschild zwar gesehen habe, dass sie aber
einfach stehen geblieben sei, wie man das bei Hundebegegnungen machen solle.
Dann war die Frau vorübergegangen. Nun erläuterte die Begleiterin der Beobachterin unaufgefordert, dass die Spaziergängerin stehengeblieben sei, während der
Führhund einfach vorbeilief.
Den Ausgangspunkt dieser Situation bildet der Umstand, dass die beiden
Menschen dem sie begleitenden Hund keine Beachtung schenken – bzw. ihn nicht
kontrollieren, sondern sich selber überlassen. Der Grund hierfür ist, dass die beiden
durch ihr Gespräch abgelenkt sind. Da die blinde Beobachterin sich akustisch auf
das Gespräch konzentriert, nimmt sie das Verhalten ihres Hundes nicht wahr und
ihr entgeht auch, dass sich eine Spaziergängerin dem Hund genähert hat. Dieser
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Informationsmangel, der die eigene Kontrolle der Situation verhindert, wird
ihr erst bewusst, als ihre sehende Begleiterin eine Bemerkung macht, aus deren
Inhalt die Beobachterin schließt, dass die Äußerung nicht an sie selber gerichtet
ist. Die sehende Begleiterin reagiert mit ihrer Äußerung auf eine Handlung einer
Spaziergängerin – das Stehenbleiben, als sich der Führhund nähert –, die sie als
Unsicherheit im Umgang mit Hunden auffasst. Diese Handlung weist in den Augen
der Begleiterin auf ein Merkmal der Spaziergängerin hin, das sie möglicherweise
als Defizit und Stigma deutet: Die mangelnde Kompetenz der Spaziergängerin im
Umgang mit Hunden und somit ihre Unfähigkeit, die Situation eigenständig zu
bewältigen. Allerdings wird die Spaziergängerin von der Begleiterin der Beobachterin
nicht offen stigmatisiert. Ihre Mitteilung, der Hund sei harmlos, kann hier mehrere
Funktionen übernehmen. Zum einen kann sie dazu dienen, der Spaziergängerin
ihre Unsicherheit zu nehmen. Zum anderen tritt die Begleiterin hier aber auch als
Fürsprecherin für den Hund auf und verteidigt das Image, dass er nicht gefährlich
sei. Belegen möchte sie dies damit, dass es sich ja schließlich um einen Hund mit
besonderer Ausbildung – um einen Führhund – handle. Mit dieser Entschuldigungstaktik verfolgt die sehende Begleiterin möglicherweise aber auch eigennützige
Ziele: Eventuell möchte sie verhindern, selber zum Opfer von Stigmatisierungspraktiken durch die verunsicherte Spaziergängerin zu werden. Befürchten könnte
sie eine Stigmatisierung deshalb, weil sie gegen moralische Standards verstoßen
und auf die Belange der Spaziergängerin keine Rücksicht genommen hat. Denn die
Begleiterin hat nicht eingegriffen, z. B. indem sie den Hund zurückgerufen und an
die Leine genommen hat. Ihre Äußerung, der Hund sei harmlos, kann somit auch
als Rechtfertigung für den unterlassenen Rückruf gewertet werden, da von einem
harmlosen Hund eben keine Gefahr ausgeht.
Die Spaziergängerin wiederum akzeptiert die ihr auferlegte Eigenschaft (mangelnde Souveränität im Umgang mit Hunden) nicht, die unter Umständen stigmatisierend wirken kann. So expliziert sie eine andere Deutung für ihre Handlung
– sie verhalte sich so, wie man das bei der Begegnung mit Hunden machen solle
– als normentsprechend. Mithilfe dieser Strategie möchte sie ihr positives Image
wahren: Sie stellt sich als kompetente Person ohne Hund im Umgang mit fremden
Hunden dar. Dabei erachtet sie es als nicht relevant, ob der Hund ein Assistenzoder Familienhund ist. Die Spaziergängerin macht der blinden Beobachterin und
ihrer Begleiterin auch keine Vorwürfe, weil sie den Hund nicht angeleint haben.
Vielmehr präsentiert sie sich als kompetente Person, die die Situation unter Kontrolle und eigenständig bewältigt hat.
Das Auftreten der blinden Beobachterin in dieser Situation kann als passiv
bezeichnet werden. Dies kann aber ebenfalls als Schutz vor einer möglichen Stigmatisierung angesehen werden. Hätte sie die anderen an der Situation Beteiligten nach
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Natalie Geese
der Begegnung zwischen Spaziergängerin und Hund um Informationen gebeten, um
die Situation besser einschätzen zu können, hätte sie ihre Blindheit deutlich zum
Ausdruck gebracht. In diesem Fall hätte sie sich aber nicht nur als blind, sondern
als inkompetente Blinde präsentiert. Denn sie hätte gezeigt, dass sie die Situation
während jener Begegnung zwischen der Spaziergängerin und ihrem Führhund nicht
unter Kontrolle hatte. Um ihre Blindheit nicht zu aufdringlich werden zu lassen und
zu verhindern, das Blindheit in den Augen der Spaziergängerin mit Inkompetenz
in Verbindung gebracht wird, gibt die blinde Beobachterin die Verantwortung für
die Bewältigung der Situation an ihre Begleiterin ab. Diese Strategie ermöglicht es
ihr, die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken. Zum Erfolg führt ihre Strategie
vermutlich auch deshalb, weil sie von weiteren situativen Einflüssen unterstützt wird,
die hier zufällig auch die Funktion der Verdeckung von Blindheit übernehmen.
Dies ist einerseits die Tatsache, dass sich die blinde Beobachterin nicht von ihrer
Begleiterin führen lässt. Andererseits wird die Blindheit thematisch überdeckt, da
die Kompetenz der Spaziergängerin im Umgang mit Hunden und nicht das Leben
mit Blindheit Gegenstand des Gesprächs ist.
Auffällig ist in diesem Fallbeispiel, dass die Beteiligten bemüht sind, Deutungen
für ihr Handeln anzuführen, die die positive Darstellung des eigenen Images nicht
gefährden. So wird einer möglichen Stigmatisierung die Grundlage entzogen, bevor
sie überhaupt stattfinden kann. Die Frage, ob es in jener Situation aber tatsächlich zu
einer Stigmatisierung gekommen wäre, wenn eine der Interaktionsteilnehmerinnen
ihr positives Image nicht hätte verteidigen können, kann anhand der vorliegenden
Beobachtung nicht beantwortet werden. Es kann jedoch gezeigt werden, dass alle
Interaktionsteilnehmenden grundsätzlich die Möglichkeit haben, Strategien anzuwenden, um anderen ein positives Selbst zu präsentieren. Ferner wirft das Beispiel
die – von Goffman nicht beantwortete – Frage auf, welche Konsequenzen eine
Stigmatisierung für den Stigmatisierenden bzw. die Stigmatisierende haben kann.
Hätte die Spaziergängerin der sehenden Begleiterin ihre Missbilligung aufgrund
des nicht erfolgten Rückrufs des Hundes deutlich zum Ausdruck gebracht, hätte sie
gleichzeitig gezeigt, dass sie die Situation nicht eigenständig bewältigen kann. Dies
hätte unter Umständen einen Imageverlust der Spaziergängerin zur Folge gehabt.
Macht sich eine Person z. B. in der Öffentlichkeit über einen behinderten Menschen
lustig, verstößt sie damit gegen die moralischen Standards einer Gesellschaft und
macht sich bei den anderen Anwesenden möglicherweise selber unbeliebt. Somit
‚profitieren‘ unter Umständen alle Beteiligten davon, wenn auf stigmatisierende
Praktiken verzichtet wird.
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